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Nicht bei Sinnen – nicht versichert


Wer heute eine Unfallversicherung abschließt, denkt, dass er grundsätzlich gegen alle Arten von Unfällen abgesichert ist. Gilt dies auch beim Sturz vom Gerüst, wenn der Gerüstbauer den ganzen Tag bei starker Hitze und Sonneneinstrahlung ein Gerüst auf- bzw. abgebaut hat?

Grundsätzlich sind Unfälle, die auf Geistes- und Bewusstseinsstörungen beruhen in den Unfallversicherungsbedingungen ausgeschlossen. 

Unfälle von versicherten Personen, die aufgrund solcher Zustände entstehen, sind also nicht versichert – auch nicht, wenn sie auf Trunkenheit beruhen oder durch Schlaganfälle, epileptische Anfälle oder sonstige, den ganzen Körper ergreifende Krampfanfälle ausgelöst wurden (vgl. AUB 2008/99, Ziffer 5.1.1).

Was genau aber ist eine Geistes- oder Bewusstseinsstörung? Wann ist der Ausschlusstatbestand erfüllt? 


Beispiele aus der Rechtsprechung

Der Risikoausschluss „Geistes- und Bewusstseinsstörung“ wird in vielen Fällen als gerechtfertigt angesehen, wie die folgenden Gerichtsbeschlüsse belegen. Ein grundsätzliches Urteil etwa spricht der Bundesgerichtshof (BGH), als er den hitzebedingten Kreislaufkollaps eines Versicherungsnehmers unter den Begriff „Bewusstseinsstörung“ fasst.

Auch der Sekundenschlaf fällt in der Regel unter den Ausschlusstatbestand. So wertet das Landgericht (LG) Hannover z. B. einen durch Schlafapnoe bedingten Sekundenschlaf als Bewusstseinsstörung (LG Hannover, Urteil vom 31.01.1997, 10 S 78/96).

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg geht im Falle des Sturzes einer Hausfrau auf den Küchenboden von einer Bewusstseinsstörung (Ohnmacht) als Unfallursache aus, da die Stürzende weder eine Abwehrreaktion zeigte noch äußere Umstände, wie Stolperfallen oder Glätte, am Unfallort erkennbar waren (OLG Hamburg, Urteil vom 25.04.2007, 9 U 23/07).

Auch andere Gerichte werten Ohnmachtsanfälle als Geistes- und Bewusstseinsstörung im Sinne des Ausschlusses, so z. B. das OLG Hamm (OLG Hamm, Urteil vom 14.08.1985, 20 U 72/85).

Natürliche Müdigkeit sehen die Richter in der Regel nicht als Bewusstseinsstörung an, auch nicht Zustände der Übermüdung bzw. Schlaftrunkenheit (z. B. OLG Hamm; OLG Oldenburg; OLG Celle; OLG Nürnberg; vgl. Wussow, 1994).

Sind Sinnesorgane in ihrer Funktion eingeschränkt – etwa bei verminderter Sehfähigkeit aufgrund von Blendeempfindlichkeit –, zählt dies laut höchstrichterlichem Beschluss nicht zu den Ausschlusstatbeständen (BGH, Urteil vom 30.10.1985, IVa ZR 10/84).

Dasselbe gilt für vorrübergehende Kreislaufstörungen, beispielsweise wenn  jemandem bei plötzlichen Lageveränderungen des Körpers oder bei schwerem Tragen schwarz vor den Augen bzw. schwindlig wird (vgl. Wussow/Prückhauer, 1983). Das OLG Oldenburg bestätigt, dass ein herkömmliches „Schwarz-vor-Augen“-Werden ohne krankhafte Natur generell nicht als Bewusstseinsstörung im Sinne des Ausschlusses gilt (OLG Oldenburg, Urteil vom 08.08.1990, 2 U 95/90).

Ebenso wenig als bewusstseinseinschränkend im Sinne des Ausschlusstatbestands betrachtet der BGH eine momentane Ablenkung durch plötzlichen heftigen Schmerz (BGH, VersR 1989, 902). Ein solcher ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem so genannten Vernichtungsschmerz nach einem Herzinfarkt. In diesem Fall liegt eindeutig eine Bewusstseinsstörung vor (OLG Saarbrücken, VersR 1998, 310).


Einzelfall entscheidet

Die vorgenannten Beispiele machen deutlich, dass für die Entscheidung, ob eine Bewusstseinsstörung vorliegt oder nicht, feststehende objektive Maßstäbe nicht herangezogen werden können. Vielmehr muss jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden (BGH NJW, RR 91).

Welches Maß an Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit einem/einer Versicherten abverlangt wird, hängt von der jeweiligen Lebenssituation ab, in der er oder sie sich zum Schadenzeitpunkt befunden hat. Unterschiedliche Gefahrenlagen begründen unterschiedliche Anforderungen. Unter diesem verschärften Gesichtspunkt ist sicherlich auch der zu Beginn beschriebene Sturz des Gerüstbauers zu bewerten. 

Von einer Geistes- und Bewusstseinsstörung ist immer dann auszugehen, wenn zum Schaden-/Unfallzeitpunkt erhebliche Störungen der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit vorliegen, welche die versicherte Person außerstande setzen, den Sicherheitsanforderungen ihrer Umwelt zu genügen. 

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